Thomas Girst: Alle Zeit der Welt

Hanser Verlag, 2019, 208 Seiten

Zum einen, weil du in der Urlaubszeit hoffentlich die Muse hast, auch den grundsätzlichen Betrachtungen nachzuhängen, die dieses Buch aufwirft. Zum anderen, weil das Buch handlich genug ist, um in die Badetasche oder den Wanderrucksack zu passen und die Aufbereitung in 28 voneinander unabhängige Geschichten auch in Etappen gelesen werden kann – zum Beispiel beim Warten auf den Eiskaffee, den Zug oder die Kinder.

Von Unmittelbarkeit zu Ewigkeit
Der ehemalige taz-Korrespondent und Kulturmanager Thomas Girst stellt also in seinem Buch gleichsam umfassende und unterhaltsame Betrachtungen zum Thema Zeit an. Er be- und durchleuchtet Begriff und Thema aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln, aber doch immer mit der Überzeugung, gegen das allgegenwärtige „Diktat des Tempos“ auftreten zu wollen.
Er setzt sich mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinander, mit Zeit, die schnell oder langsam vergeht, mit Zeit, die man genießt und die zur Qual wird. Und stellt immer wieder fest: Wenn der Mensch sich Zeit lässt, dann gelingen ihm große Dinge. Wir müssten nur lernen, uns Zeit zu nehmen – wieder oder immer wieder aufs Neue?!

Zeit als Dauerbrenner
Von Descartes bis Shakespeare, von Kant bis Elon Musk von Sartre bis Marina Abramovic: Dichter und bildende Künstlerinnen, Philosophen und Unternehmerinnen, sie alle haben über Zeit gearbeitet, sich an ihr abgearbeitet. Das stellt Thomas Girst in seinen Betrachtungen anhand konkreter Fakten und den so plastischen Schilderungen auch historischer Ereignisse immer wieder fest. Zeit und der Umgang mit ihr sind noch nie etwas rein Privates gewesen, sie hatten und haben seit Menschen gedenken auch wirtschaftliche, religiöse und politische Dimensionen.

Mit viel Liebe zum Detail und einem Verständnis für Zusammenhänge, ausgewählte Zitate und Anekdoten führen dazu, dass man in jedem der Beiträge nicht nur etwas über „die Zeit“ erfährt, sondern auch anderes Interessantes lernt: Über Bodensee-Überquerungen und physikalische Experimente mit Pech ebenso wie über die Qin-Dynastie, die ägyptischen Pharaonen oder zeitgenössische europäische Literatur.

„Kein Mensch vermag jemals seine Gedanken völlig angemessen auszusprechen; denn das menschliche Wort ist wie ein gesprungener Kessel, auf dem wir eine Musik für Tanzbären trommeln, während wir die Sterne rühren möchten“, zitiert der Autor etwa Gustave Flaubert und beweist dennoch, dass es durchaus gelingen kann, ein auch sprachlich schönes und stimmiges Buch zu schreiben.

Thomas Girst erwähnt in einer der „Kurzgeschichten“ durchaus wehmütig, es gäbe keine Universalgelehrten mehr in einer so spezialisierten Zeit wie unserer. Vielleicht war ihm auch diese Einsicht selber Antrieb. Denn das Buch ist auch insofern ein Genuss, als der universal gebildete Kunsthistoriker, Amerikanistiker und Literaturwissenschaftler für seine Betrachtungen zur Zeit unglaublich vielfältige Informationen und Geschichten sinnvoll und spannend verbindet. Die 208 Seiten des gebundenen Buches sind somit dicht gefüllt und gleichzeitig wunderbar lesefreundlich, mit viel Gespür für Inhalt und Ästhetik komponiert.

Ich wünsche dir eine entspannte und entspannende Urlaubszeit!

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Buchtipps von Bettina Rausch-Amon

Bettina Rausch-Amon, geboren 1979, Mag. phil., MBA (Health Care Management), ist Präsidentin der Politischen Akademie der Volkspartei und Abgeordnete zum Nationalrat. Sie war fünf Jahre lang Mitglied des Bundesrates und weitere fünf Jahre lang Abgeordnete zum Niederösterreichischen Landtag. Sie ist Herausgeberin zahlreicher Publikationen, zuletzt des Sammelbandes „Christlich-soziale Signaturen. Grundlagen einer politischen Debatte,“ gemeinsam mit Simon Varga, und des Sammelbandes „Bürgergesellschaft heute. Grundlagen und politische Potenziale“ gemeinsam mit Wolfgang Mazal. Seit 2018 ist Rausch Mitherausgeberin des „Jahrbuchs für Politik“. Bettina Rausch ist externe Lehrbeauftragte u.a. an der IMC FH Krems und an der FH Campus Wien.

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