Konrad Paul Liessmann: Lauter Lügen

Zsolnay Verlag, 256 Seiten

Konrad Paul Liessmann ist bislang der einzige Autor, von dem ich ein zweites Buch im Rahmen meiner unregelmäßig erscheinenden Buchtipps empfehle. Aus gutem Grund: Denn aus der Position eines im besten Sinne selbstkritischen Zeitgenossen stellt sich Österreichs großer Philosoph hier in ihren unterschiedlichsten Facetten die Frage „In welcher Zeit lebe ich eigentlich?“.

Publiziert

… wurden die einzelnen Beiträge des Buches alle schon einmal, und zwar zwischen 2016 und 2022 etwa in der Neuen Zürcher Zeitung, der Wiener Zeitung und der Kleinen Zeitung. Dennoch liest es sich aber ganz und gar nicht wie ein loser Sammelband, die einzelnen Betrachtungen sind vielmehr zu einem stimmigen und stringenten Mosaik verbunden. Zusammengefasst in Kapitel mit klingenden Namen wie „Saubere Säue“, „Seichte Sprache“ oder „In guter Gesellschaft“ setzt sich Konrad Paul Liessmann mit relevanten Phänomenen unserer Zeit auseinander – und das „sowohl aus der Distanz und mit sanfter Ironie als auch engagiert und mit großen Ernst“.
Einen breiten Bogen spannt er in den Beiträgen und damit im Buch: Unter anderem diagnostiziert er unserer Gesellschaft angesichts der coronabedingten Einschränkungen eine große Kränkung, militanten Klimaschützern eine gewisse Menschenfeindlichkeit, der Kunst- und Kulturszene einen Hang zur Bevormundung, uns allen Angst vor der Freiheit und vor der Angst an sich.

Philosophisch

… geht Konrad Paul Liessmann seiner Profession gemäß vor, wenn er „die Gegenwart seziert“. Darüber hinaus er- und beweist er sich in diesem Werk einmal mehr als Universalgelehrter und Sprachkünstler im besten Sinne. „Informativ und geistreich, pointiert und facettenreich“ formuliert er laut Klappentext des Buches und genauso sind seine Texte sprachlich und inhaltlich auch angelegt. Umfassender Lesegenuss ist also garantiert.

„Zeitgenossen tendieren dazu, sich selbst und ihre Gegenwart zu überschätzen“, schreibt Liessmann schon im Vorwort, gleichsam als eine Mahnung an ihn selbst, die es eigentlich nicht bräuchte. Denn er leuchtet vermeintlich zeitgenössische Begriffe und damit Phänomene gnadenlos aus, nimmt ihnen Schärfe, reduziert mitunter ihr Gewicht und ordnet sie neu ein. Darunter etwa die an ‚falscher Stelle‘ gesuchte Wahrheit, die ‚überbewertete‘ Glaubwürdigkeit, die ‚überladene‘ Identität, die ‚dämonisierte‘ Mehrheitsgesellschaft.

Politisch

… ist ja letztlich alles was wir im Sinne unseres Zusammenlebens gestalten und entscheiden. Und so haben auch Liessmanns Betrachtungen, Analysen, Impulse letztlich allesamt einen politischen Aspekt. Sie helfen dabei, etwa die „Irrtümer und Selbsttäuschungen“ unserer Gesellschaft besser zu verstehen.  Sie laden ein, ja fordern auf, unsere Wahrnehmung zu schärfen – nicht nur für das Offensichtliche, sondern auch für Hintergründe und erstmal Verborgenes; nicht nur für die großen Veränderungen und Trends, sondern auch für vermeintliche Nebenschauplätze und Gegenbewegungen; nicht nur für das laut Ausgesprochene, sondern auch für Unter- und Zwischentöne.

Sehr klar, ja plakativ dafür Liessmanns Unterscheidung von Politik und Wissenschaft: „In der Politik geht es nicht um Wahrheits-, sondern Machtfragen. Anders in der Wissenschaft. Für sie ist Wahrheitsfindung die regulative Leitidee.“ Und noch konkreter: „[…] Wahlen in einer Demokratie waren nie Veranstaltungen zur Entscheidung von Wahrheitsansprüchen.“ (im Beitrag „Feine Fakten“)

Gegen den Strich bürstet Liessmann den allgegenwärtigen Diskurs rund um Diversität: „Identität sabotiert Individualität“, stellt er fest. Statt jeder Aussage ein „Ich als…“ vorauszuschicken, gleichsam als verbalisierte Aufgabe dieses „Ich“ zugunsten einer Kategorisierung hielte er es für human, „die Vielgestaltigkeit des Menschen und die Plastizität seiner Zugehörigkeiten zu stärken und zu fördern.“ (im Beitrag Inkonsistente Identität)

Liessmann mutet uns mit all seinen so genauen Analysen einiges zu. Allein schon die Erkenntnis, dass viel weniger eindeutig ist als uns bequem wäre, dass viel weniger planbar ist als uns lieb wäre, mag nämlich verdrießen oder ermüden. Anders gelesen eröffnet sie jedoch viele Gelegenheiten. Gelegenheit jedenfalls in der engagierten Auseinandersetzung mit Themen und Problemen, mit Mitmenschen und einem selbst unsere Lebenswirklichkeit zu gestalten, immer wieder neu. Er stellt sich Bevormundung entgegen und ruft zum Gebrauch des Verstandes auf. Und zum Dialog. Und zur Verteidigung der Freiheit. Wenn das keine politischen Ansagen sind?!

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Buchtipps von Bettina Rausch-Amon

Bettina Rausch-Amon, geboren 1979, Mag. phil., MBA (Health Care Management), ist Präsidentin der Politischen Akademie der Volkspartei und Abgeordnete zum Nationalrat. Sie war fünf Jahre lang Mitglied des Bundesrates und weitere fünf Jahre lang Abgeordnete zum Niederösterreichischen Landtag. Sie ist Herausgeberin zahlreicher Publikationen, zuletzt des Sammelbandes „Christlich-soziale Signaturen. Grundlagen einer politischen Debatte,“ gemeinsam mit Simon Varga, und des Sammelbandes „Bürgergesellschaft heute. Grundlagen und politische Potenziale“ gemeinsam mit Wolfgang Mazal. Seit 2018 ist Rausch Mitherausgeberin des „Jahrbuchs für Politik“. Bettina Rausch ist externe Lehrbeauftragte u.a. an der IMC FH Krems und an der FH Campus Wien.

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