Geert Mak: Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums.

Pantheon Verlag, 640 Seiten

Es ist eine große Aufgabe, der sich Geert Mak in seinem 2020 in erster Auflage erschienen Buch „Große Erwartungen“ stellt. Er begibt sich auf die Spuren des europäischen Traums – und das ebenso feinfühlig wie im besten Sinne analytisch. Sein 640 Seiten starkes Werk ist, so “Der Spiegel”, eine „Mixtur aus Essay, Reportage und Geschichtsschreibung“. Und diese Vielfalt und Dichte fordert und fesselt einen als Leser bzw. Leserin gleichermaßen.

Gegenwartsgeschichte

Der Niederländer Geert Mak wird gemeinhin als Gegenwartsgeschichtler bezeichnet, tatsächlich hat er Rechtswissenschaften und Soziologie studiert und arbeitet als Journalist, Publizist und eben Sachbuchautor. Und er stellt in „Große Erwartungen“ auch rasch klar, dass es für eine tatsächlich historische Betrachtung der ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts noch zu früh sei. Und so wendet er einen Kunstgriff an: Er lässt uns – immer wieder während seiner Erzählungen – aus den Augen einer Geschichtsstudentin des Jahres 2069 auf diese, auf unsere Zeit blicken. So schafft er immer wieder die nötige Distanz, um auch schon jetzt größere Zusammenhänge sichtbar zu machen, und er versucht auch Ausblicke auf die Auswirkungen heutiger Entwicklungen.

20 Jahre in 24 Kapiteln

Große Erwartungen ist in ganze 24 Abschnitte – darunter auch ein Prolog und Epilog – gegliedert und in dem Sinne chronologisch aufgebaut, dass beginnend mit dem Jahr 1999 je Kapitel die politische, ja gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung Europas Jahr für Jahr nacherzählt, beschrieben und in dieser Weise auch verdichtet wird. Nicht jedes Jahr kommt explizit vor, Maak hat sich da eine subjektive, aber durchaus nachvollziehbare Auswahl erlaubt. Angereichert sind seine multiperspektivischen „Jahresberichte“ um sehr persönliche Geschichten wesentlicher bzw. prototypischer Europäerinnen und Europäer dieser Zeit. Die aktualisierte Ausgabe zum erstmals 2020 erschienenen Buch enthält nun auch ein Nachwort zum Krieg in der Ukraine.

So nah und doch so fern

Indem er also auch einzelne persönliche Schicksale facettenreich und genau ausleuchtet, stellt Gert Maak nicht nur unter Beweis, dass er ein großartiger Geschichtenerzähler ist. Er stellt damit auch eine echte Nähe von Leserin bzw. Leser und Geschichte her, der man sich kaum entziehen kann. Und so ruft er uns diese für europäische – einzeln und ihrer Gesamtheit – so schicksalshaften Jahre wieder ins Gedächtnis. 9/11 und die geplatzte Start-up-Blase, die Lehman-Pleite und die Bankenkrise, die russische Besetzung der Krim und der Ausstieg Großbritanniens aus der EU … Er erzählt diese Ereignisse nicht nur nach. Er betrachtet einerseits durchaus kritisch und lässt andererseits auch Raum für Erkenntnisse. Unter anderem wird deutlich, dass viele der als überraschend erlebten Ereignisse dieser Jahrzehnte wohl doch vorhersehbarer waren als wir uns eingestehen wollen. Und dass – jedenfalls in der Nachbetrachtung – so manche Entscheidung weitreichendere Folgen hat als man damals sehen konnte (oder wollte). Gert Maaks Bestandsaufnahme ist mindestens ambivalent, sein Ausblick tendenziell pessimistisch. „Was ist, dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, aus dem alten europäischen Traum – Frieden, Freiheit und Wohlstand – geworden, der immer mehr zum Albtraum wird?“ Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch.

Für mich sind Maaks Betrachtungen interessant und aufrüttelnd gleichzeitig. Als jemand, die die Zeit von 2000 bis 2020 schon als Erwachsene und auch über viele dieser Jahre als politische Gestalterin erleben durfte, stimmen sie mich nachdenklich. Hätten wir mehr sehen können oder müssen? Wo würden wir heute stehen, wenn wir manches anders entschieden hätten? Welche Chancen haben wir verpasst?
Gert Maak macht es einem mit „Große Erwartungen“ nicht leicht, die Lektüre empfehle ich umso mehr uneingeschränkt. Sie kann und soll motivieren, das „fragile Wesen Europas“ besser zu verstehen und beherzt daran zu arbeiten, den Glauben an diesen Kontinent, seine Menschen und unseren „Way of Life“ zu stärken wo immer wir können.

 

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Buchtipps von Bettina Rausch-Amon

Bettina Rausch-Amon, geboren 1979, Mag. phil., MBA (Health Care Management), ist Präsidentin der Politischen Akademie der Volkspartei und Abgeordnete zum Nationalrat. Sie war fünf Jahre lang Mitglied des Bundesrates und weitere fünf Jahre lang Abgeordnete zum Niederösterreichischen Landtag. Sie ist Herausgeberin zahlreicher Publikationen, zuletzt des Sammelbandes „Christlich-soziale Signaturen. Grundlagen einer politischen Debatte,“ gemeinsam mit Simon Varga, und des Sammelbandes „Bürgergesellschaft heute. Grundlagen und politische Potenziale“ gemeinsam mit Wolfgang Mazal. Seit 2018 ist Rausch Mitherausgeberin des „Jahrbuchs für Politik“. Bettina Rausch ist externe Lehrbeauftragte u.a. an der IMC FH Krems und an der FH Campus Wien.

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