Kommentar: Menschenwürde

Februar 2019, Rot-weiss-rot in Europa

Eine syrische Flüchtlingsfamilie und das Ideal einer Gesellschaft freier und verantwortlicher Menschen. Gedanken über ein christlich-soziales Politikverständnis und das Ringen um gerechte Antworten auf schwierige Fragen.

Ein Kommentar von Bettina Rausch

Eine syrische Flüchtlingsfamilie und das Ideal einer Gesellschaft freier und verantwortlicher Menschen. Gedanken über ein christlich-soziales Politikverständnis und das Ringen um gerechte Antworten auf schwierige Fragen.

Eine Tochter hat sich endlich ihren Traum erfüllt und es an die Handelsakademie geschafft. Ein Sohn wird ihr nächstes Jahr dorthin folgen. Die beiden jüngeren Brüder sind brave Schüler und leidenschaftliche Schwimmer und Bastler. Alle vier leben in einer fürsorglichen Familie und haben einen lieben Freundeskreis.

Nein, es geht hier nicht um meine Kinder. Meine Tochter, Emma, ist zwar auch höchst aktiv, aber erst zwei Jahre alt. Hier geht es um die Familie Yassin.

Die Familie Yassin stammt aus Syrien. Im Jahr 2015 haben sie sich auf den Weg gemacht, sind dem Bürgerkrieg entflohen. All ihren Besitz, den sie sich mit harter Arbeit aufgebaut hatten, mussten sie zurücklassen. Und auch liebe Freunde und Verwandte. Ihr Weg war gefährlich, ihr Schmerz saß tief. Aber ihre Hoffnung war groß. Die Sehnsucht nach einem Leben ohne Krieg und Angst, ohne Gewalt und Gefahr. Die Sehnsucht nach einem Leben in Sicherheit, nach einem Leben voller Chancen vor allem für ihre Kinder.

Es sind Geschichten wie diese, die unser Herz berühren. Jedenfalls meines.

Ankommen in Österreich

Im Jahr 2015 hat Familie Yassin Österreich erreicht und ihren Platz in St. Pölten gefunden. Ich bin damals, im Jahr 2015, nicht am Westbahnhof gestanden, demonstrierend für offene Grenzen für alle und jeden. Ich habe die Patenschaft für eine Familie übernommen, wurde über ein Projekt der Diakonie „Buddy“ der Yassins. Ohne zu wissen, was da auf mich zukommt. Ohne zu wissen, welche Familie das sein wird. Aber im Wissen, dass ich helfen will. Konkret und wirksam.

Schule und Deutschkurse, Wohnung und Behördenwege – es gab so viele Fragen, als es für Familie Yassin darum ging, in ihrer neuen Heimat Fuß zu fassen. Und ich war nicht die einzige, die dabei unterstützt hat. Was mich besonders beeindruckt hat: Ihr ständiger Wunsch, im Gespräch mit mir ihr Deutsch zu verbessern – was beim Unterhalten über die vielen syrischen Spezialitäten auf dem kleinen Wohnzimmertisch oder über die Hausübungen der Kinder leicht gelang. Die Yassins haben mit viel Mut, Fleiß und Zuversicht Deutschkurse und Schulstufen absolviert und können immer besser für sich selber sorgen. Ich bin einfach da, wenn Hilfe gefragt ist.

In meiner Familie, von meinen Eltern und Großeltern, habe ich Werte erlebt und gelernt, die man wohl als christliche Werte bezeichnen kann. Im Gymnasium des Benediktinerstiftes Melk wurde mein Blick aufs Christentum geschärft, mein Bewusstsein für Werte geschult, meine Überzeugung, ein christliches Leben leben zu wollen, gestärkt.

Millionen Menschen aus Afrika, Vorderasien und anderen Weltgegenden sind auf der Flucht und auf der Suche nach einem besseren Leben. Zehntausende standen 2015 vor unseren Grenzen. Tausende ertrinken im Mittelmeer. Jede Einzelne, jeder Einzelne ist ein Mensch, der Hilfe und Liebe verdient.

Und gleichzeitig weiß ich: Ohne Ordnung, ohne Koordination, ohne ein gemeinsames Verständnis unserer Verantwortung allen Beteiligten gegenüber kann es nicht gehen. Christlich sein heißt nicht, die Realität und das Machbare zu negieren. Christinnen und Christen leben in der realen Welt.

Ein Anspruch an Jede und Jeden

Und so frage ich mich: Wie werde ich meiner christlich-sozialen Überzeugung gerecht im Spannungsfeld zwischen dem Ideal der Hilfe für die und den Einzelnen einerseits und der realistischen Einschätzung des Machbaren und Zumutbaren andererseits. Es ist ein ständiges Ringen mit mir selbst, ein Ringen um richtige Antworten, gerechte Antworten, christlich-soziale Antworten. Ein Ringen um Antworten, das so viele Politikerinnen und Politiker erleben – mit sich selbst und mit ihren Kolleginnen und Kollegen.

Wenn Herr Yasin von seiner Ausbildung am WIFI erzählt, von seinen Erfolgen, von der Wertschätzung die er dort erfährt, wenn ich seine Frau auf einem Behördenweg begleite, wenn einer der Söhne voller Stolz sein Zeugnis zeigt, wenn ein anderer Sohn erzählt, was er mit seinen Freunden erlebt hat, wenn die Tochter auf Instagram postet, dass sie wieder mal mit einer Freundin in ihr geliebtes Wien fährt und das alleine super schafft, dann bin ich mit mir im Reinen.

Und vielleicht ist das eine erste Antwort: Christlich-sozial zu sein ist vor allem einmal ein Anspruch an mich persönlich, an jede und jeden Einzelnen. Wer christlich-sozial lebt, fordert nicht die Verantwortung anderer ein, sondern übernimmt Verantwortung – für sich selbst, für die und den Nächsten, für die Gesellschaft. Also Personalität, Subsidiarität und Solidarität, wie die drei Prinzipen der christlichen Soziallehre lauten.

Als Politikerin frage ich mich natürlich und werde ich gefragt, wie Politik christlich-sozial sein kann. Offenkundig gibt es darauf keine einfache Antwort, sonst gäbe es ja nicht so zahlreiche Diskussionen darüber. Diskussionen, die ich fruchtbar und wertvoll finde, solange sie von Respekt und Wertschätzung für die oder den Anderen und seine oder ihre persönlichen Meinungen getragen sind.

Intensiv, oft heftig, werden zurzeit im persönlichen Gespräch wie auch im öffentlichen Diskurs Fragen rund um Asyl und Migration diskutiert. Allzu oft in Einem, anstatt korrekt zu unterscheiden. Die Flucht vor persönlicher Verfolgung ist etwas anderes als die allgemeine Suche nach einem besseren Leben. Beides ist legitim, menschlich verständlich und moralisch zulässig. Aber es ist nicht dasselbe. Gerecht im christlich-sozialen Sinn ist, Unterschiedliches unterschiedlich zu behandeln.

Das Recht auf Asyl bei persönlicher Verfolgung ist moralisch unumstritten und rechtlich abgesichert. Schwieriger wird es, wenn es um Zuwanderung geht. Ein Problem, das vor allem jene Länder fordert und herausfordert, die ein starkes soziales Netz bieten. Nicht von ungefähr bestimmt die Formulierung “Zuwanderung ins Sozialsystem” den öffentlichen Diskurs.

Martin Rhonheimer, Theologe und Priester, Philosophie-Professor an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom, formuliert dazu sehr deutlich: “Niemand hat gegenüber seinen Mitmenschen grundsätzlich einen Rechtsanspruch auf ein besseres Leben.” Grund zur Migration solle “die berechtigte Hoffnung sein, im Land, in das man einwandern will, Arbeit zu finden, sich also selbst zu erhalten”. Andernfalls würde der Sozialstaat zum Versorgungsstaat für Immigranten, worin Rhonheimer “eine große Ungerechtigkeit gegenüber der Gesamtbevölkerung” sähe.

Es stellt sich also die Frage, wie soziale Sicherungssysteme in einem christlich-sozialen Sinn zu gestalten sind. Die “Würde des Menschen” ist ein zentraler Gedanke, der theologisch betrachtet seinen Ursprung in der Gottebenbildlichkeit des Menschen hat, säkular in der antiken Philosophie und der europäischen Aufklärung und rechtlich manifestiert in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Und dennoch ist der Begriff der Menschenwürde ständig aufs Neue interpretationsbedürftig, sich darauf zu berufen führt nicht immer zu denselben Ergebnissen. Auch hier gilt: Die Suche nach richtigen und gerechten Antworten ist ein ständiges Ringen mit sich selbst.

Arbeit und Menschenwürde

Die Mehrzahl der Interpretinnen und Interpreten der christlichen Soziallehre sieht in der Arbeit ein zentrales Element für ein Leben in Würde. Theologen sehen Arbeit auch als göttlichen Auftrag, ausgehend von der Aufforderung “Macht euch die Erde untertan” (Gen 1,27). Der Benediktinerpater Anselm Grün formuliert es, ausgehend von den Regula Benedicti, so: “Die Arbeit ist der Ort, an dem wir Haltungen wie Demut, Hingabe, Liebe, Barmherzigkeit und Mitfühlen mit den Menschen lernen.”

Profan dokumentiert die berühmte Studie über die Arbeitslosen in Marienthal aus den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts die Auswirkungen langer Arbeitslosigkeit und kommt zum eindeutigen Schluss: Ein Leben ohne Arbeit führt zu passiver Resignation.

Jedenfalls ist Arbeit mehr als nur ein Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhaltes. Arbeit ist ein sinnstiftender Teil des Lebens, eine Quelle für Bestätigung und Anerkennung und ein Beitrag zur Entwicklung von Menschheit und Gesellschaft.

Genau das habe ich mit Familie Yassin erlebt. Arbeit zu finden und selbst für ihre Familie sorgen zu können, das war von Anfang an ihr großes Ziel. Deutsch zu lernen, war für sie selbstverständlich. Inzwischen hat die Mutter die Prüfungen zur Herrenfrisörin bestanden und der der Vater steht kurz vorm Abschluss eines Mechatronik-Lehrgangs. Die Yassins übernehmen Verantwortung für sich und ihre Familie und wollen ihren eigenen Beitrag leisten in dieser Gesellschaft.

Zuwendung und Zutrauen

In diesem Sinne müssen soziale Sicherungssysteme das Ziel haben, den (Wieder)einstieg ins Arbeitsleben zu fördern und zu fordern. Christlich-soziale Politik setzt auf Hilfe zur Selbsthilfe – die Verbindung von gesellschaftlicher Solidarität mit persönlicher Verantwortung.

Hilfe zur Selbsthilfe braucht Zuwendung und Zutrauen. Zuwendung zum Hilfesuchenden, Zuwendung zur Person mit ihren individuellen Sorgen, Hoffnungen und Bedürfnissen. Eine Zuwendung, die zu leisten nicht nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialorganisationen gefordert sind, sondern jede und jeder Einzelne von uns in unserer individuellen Verantwortung für die und den Nächsten und unser unmittelbares Umfeld. Zutrauen bedeutet die grundsätzliche positive Einstellung, dass jede und jeder Wille und Fähigkeiten hat, der Hilfsbedürftigkeit zu entkommen. Dies anzuerkennen ist eine notwendige Grundvoraussetzung für ein Sozialsystem, das die Menschen wirklich stärkt.

In diesen Grundsätzen zeigt sich deutlich der Unterschied zwischen Sozialismus und christlich-sozialem Menschenbild. Wohl mit Blick auf das Gleichnis von den Talenten schreibt Papst Leo XIII in der Enzyklika “rerum novarum”, einer Antwort auf den damals – im Jahr 1891 – aufkeimenden Sozialismus: “Mit dem Wegfalle des Spornes zu Strebsamkeit und Fleiß würden auch die Quellen des Wohlstandes versiegen. Aus der eingebildeten Gleichheit aller würde nichts anderes als der nämliche klägliche Zustand der Entwürdigung für alle.”

Christlich-soziale Politik gestaltet also soziale Sicherungssystem in der Form, dass sie Chancen und Anreize bieten, die Hilfsbedürftigkeit rasch wieder überwinden zu können. Damit verbunden sind allerdings auch Pflichten in dem Sinn, dass jede und jeder auch selbst etwas dazu beitragen, dafür leisten muss – sei es persönliche Weiterbildung, das Erlernen der deutschen Sprache oder die ernsthafte Bereitschaft, Chancen auch tatsächlich wahrzunehmen.

Zutrauen – im Sinne von fordern und fördern – ist für mich überhaupt ein zentrales Element christlich-sozialer Politik. Und in gewisser Weise die Zwillingsschwester der Freiheit. Nur wer den Menschen grundsätzlich Zutrauen entgegenbringt, wird ihnen guten Gewissens auch ein hohes Maß an persönlicher Freiheit zugestehen.

Freiheit wiederum ist ein Wert, der direkt aus dem christlich-sozialen Personalitätsprinzip folgt. Der Theologe und Philosoph Clemens Sedmak, Professor für Sozialethik an der University of Notre Dame (USA) und Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung in Salzburg formuliert es ganz klar: “Gott will freie Menschen und hat uns deswegen die Freiheit geschenkt.” Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Präsident der deutschen Bischofskonferenz, würdigt der Freiheit sogar in seinem Wahlspruch: “Ubi spiritus Domini ibi libertas” (Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit).

Freie und verantwortliche Menschen

Dieser Freiheitsgedanke christlich-sozialer Politik hat konkrete Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Mensch und Staat, und zwar mit dem Ergebnis, dass Entscheidungen von den möglichst kleinste “Einheiten” getroffen werden sollen – von der oder dem Einzelnen, von der Familie, von der Gemeinschaft vor Ort. Das ist das christlich-soziale Subsidiaritätsprinzip.

Die Freiheit, individuell Entscheidungen treffen zu können, findet konkreten Niederschlag in der Frage der Verfügungsgewalt über das eigene Einkommen. Staatsorientierte Ideologien fordern ein hohes Maß an Steuern, auf dass der Staat damit mache, was er für richtig für alle halte. Christlich-soziale Politik will den Menschen möglichst viel von ihrem Einkommen lassen und traut ihnen zu, eigenverantwortlich – aber auch in ihrer individuellen Verantwortung für die Gemeinschaft – Entscheidungen zu treffen.

Den Menschen weniger von ihrem verdienten Einkommen zu nehmen ist daher logischerweise ein ganz grundsätzlicher Zugang christlich-sozialer Politikerinnen und Politiker, ein inhärenter Bestandteil ihres politischen Selbstverständnisses. Das erklärt zum Beispiel den “Familienbonus plus”, der steuerliche Entlastung für Mütter und Väter bringt, die doppelt Verantwortung tragen und Leistung erbringen – nämlich im Job und in der Familie. Auch die weitere Entlastung durch die Senkung der Einkommenssteuer und anderer lohnabhängiger Abgaben und Beiträge sowie insgesamt das Ziel der Senkung der Abgabenquote folgen diesem christlich-sozialen Politikverständnis.

Diese ökonomische Freiheit wünsche ich auch der Familie Yassin. Weil ich ihnen mit voller Überzeugung zutraue, selbst die richtigen Entscheidungen zu treffen – für sich selbst und vor allem immer mit Blick auf die Gemeinschaft, in die sie sich von Anfang an mit ehrenamtlichen Tätigkeiten eingebracht haben.

Für mich ist das der Kern des christlich-sozialen Politikverständnisses: Den Menschen zutrauen, selbst die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Und ihnen auch zutrauen, ihre Verantwortung für die Gesellschaft selbst wahrzunehmen. Daraus ergibt sich mein persönliches Ideal einer Gesellschaft freier und verantwortlicher Menschen. Ich traue uns das zu.

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