Gastkommentar: Das Bürgerliche, grundsätzlich betrachtet

Das Verlangen nach individuellen Freiheiten und jenes nach Möglichkeiten zur Mitgestaltung der Gesellschaft sind zwei zentrale Anliegen bürgerlicher Menschen.

Die Volkspartei gilt als bürgerliche Partei, der Begriff wird als Fremdzuschreibung wie auch als Selbstbeschreibung häufig verwendet – und oft auch hinterfragt. Was also bedeutet “bürgerlich”, was macht den Kern des “Bürgerlichen” aus? Dies ständig neu zu ergründen, fordert die Volkspartei, ist eine Einladung an alle Interessierten und eine wichtige Aufgabe der Politischen Akademie als Wertezentrum der Volkspartei.

Ein Blick in die Geschichte zeigt schon den Wandel, dem dieser Begriff stets unterworfen war. In der Antike waren die Bürger die Elite, die berühmten altrömischen Bürgerrechte (“civis romanus sum”) sind zwar der Vorläufer heutiger staatsbürgerliche Rechte, waren aber einer kleinen Minderheit vorbehalten.

Der Mittelstand und die soziale Frage

In den Zeiten der bürgerlichen Revolutionen von 1789 (Paris) bis 1848 (Wien) erhob sich das Bürgertum gegen die Vorherrschaft der Adelselite und für gesellschaftliche (und somit auch politische) Mitgestaltung. Für Gottfried van Swieten, einen österreichischen Aufklärer, war das Recht die Basis einer bürgerlichen Gesellschaft, dessen Kodifizierung im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (1812) die Umsetzung.

Für Karl Marx war das Bürgertum der Klassenfeind schlechthin, gegen das sich die Arbeiterklasse erheben werde. Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg gelten für manche Historiker als die Zeit des Untergangs des Bürgertums, tatsächlich war ein solches im Gründungsjahr der Volkspartei (1945) in Österreich kaum (noch) vorhanden.

Der wirtschaftliche Aufschwung in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts brachte eine Renaissance des Bürgertums mit sich. Heute wird das Bürgertum oft mit dem Mittelstand gleichgesetzt, steht also für die breite Mitte der Gesellschaft. Viele verorten sich dort, für andere ist es jedenfalls erstrebenswert.

Andererseits ist die Rede davon, dass der Mittelstand unter Druck komme, dem Mittelstand Zuzurechnende sorgen sich um den Erhalt ihres Wohlstandsniveaus und ihrer Lebensart, und mehr noch um ebendieses für nachkommende Generationen. Die soziale Frage des 19. Jahrhunderts drehte sich um die Arbeitnehmer, um das Prekariat. Die soziale Frage unserer Zeit stellt sich für die Zukunft des breiten Mittelstandes – und wird damit zum Thema für Bürgerliche und für bürgerliche Politik.

Suchen wir jetzt nach den Einstellungen bürgerlicher Menschen, über rein äußerliche Merkmale wie Bildung, ökonomische Lage oder Beruf hinaus, dann zeigen sich zwei zentrale Anliegen: das Verlangen nach individuellen Freiheiten und jenes nach Möglichkeiten zur Mitgestaltung der Gesellschaft. Beide Einstellungen ziehen sich auch durch die oben kurz umrissene Geschichte des Bürgerlichen.

Eine Bürgergesellschaft ist somit gekennzeichnet als eine Gemeinschaft, in der freie und verantwortliche Menschen zusammenleben. Diese Interpretation des Bürgerlichen kann man auch ansehen als die dialektische Synthese zweier grundlegender Vorstellungen von Mensch und Staat: auf der einen Seite die altgriechische Idee, dass die Gemeinschaftsbildung im Menschen selbst grundgelegt ist (“zoon politikon”), auf der anderen Seite die besondere Betonung des Individuums in der Aufklärung, besonders in England. Eine Gesellschaft, die beides ermöglicht, wertschätzt und verbindet, ist eine bürgerliche Gesellschaft.

Ein Bedürfnis nach Ausgleich

Bürgerliche sind heutzutage nicht mehr revolutionär, jedenfalls nicht in den sogenannten westlichen Ländern, in denen die Trias aus Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft das Leben bürgerlicher Werte und Einstellungen ermöglicht, ja befördert. Im Gegenteil: Aus dem Verlangen nach individuellen Rechten und gesellschaftlicher Mitgestaltung folgt fast zwangsläufig, jedenfalls konsequent, ein Bedürfnis nach Ausgleich. Nach Ausgleich zwischen dem Individuellen und dem Sozialem als zwei Aspekten des Mensch-Seins ebenso wie nach Ausgleich zwischen verschiedenen Vorstellungen über die Gestaltung der Gesellschaft. Für mich ist das ja – nebenbei bemerkt – das, was Politik im Kern bedeutet (oder bedeuten sollte): nämlich die gemeinsame Gestaltung des Gemeinwesens.

Die Volkspartei versteht sich als soziale Integrationspartei mit den besten Voraussetzungen, um diesen bürgerlichen Vorstellungen politischer Gestaltung gerecht zu werden. Der Ausgleich, die Suche nach dem Gemeinsamen, liegt schon der Gründung der Volkspartei im Jahr 1945 zu Grunde. Unabhängig von der Zugehörigkeit zu Klasse, Berufsstand oder sozialer Schicht haben sich Menschen mit ähnlichen Einstellungen und Vorstellungen zusammengetan.

Diese gemeinsam empfundenen Wertvorstellungen speisen sich ideengeschichtlich betrachtet aus christlich-sozialen, liberalen und konservativen Wurzeln. Beispielhaft dafür steht der Ausgleich zwischen den großen Strömungen Individualismus und Kollektivismus in der Gründungsphase der Volkspartei – in damaliger Zeit als “ausgleichender Solidarismus” bezeichnet, geht die Idee später in der sozialen (heute noch ergänzt zur ökosozialen) Marktwirtschaft auf. Die ewige Suche nach Ausgleich in der Vielfalt zeigt sich als konstitutiv für die Volkspartei. Dies unterscheidet sie auch von anderen Parteien, beruhen doch deren Gründungsgeschichten auf Gegnerschaft – sei es der Klassenkampf, der Glaube an die Überlegenheit einer Nation oder die Spaltung der Gesellschaft in vermeintlich moralisch Gute und Böse.

Das Gemeinsame, das Verbindende, das Inklusive

Dem und der Bürgerlichen ist all das seinem Wesen nach fremd. Bürgerliche suchen das Gemeinsame, das Verbindende, das Inklusive. Wenn allerorten von der drohenden Spaltung der Gesellschaft die Rede ist, dann ist ein bürgerlicher Zugang zu Politik und Gesellschaft ein tauglicher Lösungsansatz. In Zeiten von Polarisierung und Moralisierung ist die Suche nach Ausgleich wichtiger denn je.

Dazu gehört im Besonderen auch ein scharfer Blick auf die Mehrheit all jener, die sich im heutigen politischen Diskurs – der in Themenwahl und Argumentationsgang von der Minderheit liberaler Eliten dominiert wird – nur allzu selten wiederfinden. Ihnen, ihren Einstellungen und ihren Lebenskonzepten Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen und Wertschätzung entgegenzubringen – gerade das ist eine wichtige Aufgabe und eine Selbstverständlichkeit für eine Partei, die sich gerne als bürgerlich versteht.

 

Wiener Zeitung, 15.10.2022

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