Geschichte der Russland-Ukraine-Beziehung: Vom Aufstieg und Niedergang großer Reiche

Der Russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat eine Zeitenwende in Europa herbeigeführt. Zum einen müssen wir uns mit der neuen Realität eines groß angelegten Krieges auf unserem Kontinent auseinandersetzen. Zum anderen sehen wir, dass Europa und die Europäische Union so eng zusammensteht, wie schon lange nicht mehr. Um die Wurzeln dieses schon mehrere Jahre schwelenden Konflikts näher zu beleuchten lud die Politische Akademie und ihre Präsidentin, Bettina Rausch, am 15. März zu einem hochkarätigen Gedankenaustausch in die Wiener Diplomatische Akademie.

Prof. Wolfgang Mueller, stv. Institutsvorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien, Prof. Stefan Karner, Gründer und ehemaliger Leiter des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, und Velina Tchakarova, Direktorin des AIES, lieferten dabei Einblicke in die Geschichte der Region und Hintergründe zur historischen Beziehung zwischen Ukraine und Russland. Durch die Veranstaltung leitete Botschafter Emil Brix, Direktor der Diplomatischen Akademie und ehemaliger österreichischer Botschafter in Moskau.

Präsidentin Bettina Rausch blickte in ihren einführenden Worten auf das große Ganze. So „war und ist dieser Konflikt ein Wettbewerb der Systeme. Die Ukraine und andere Länder haben im Sowjetregime eine Politik erlebt, die von Unfreiheit und Repression geprägt war, von Planwirtschaft und autoritärer Führung. Im Westen gab es ein anderes Modell – Individuelle Freiheit, soziale Marktwirtschaft und demokratische Mitbestimmung. Und die Menschen (in der Ukraine) haben gesagt, so wollen wir leben. Nicht alle, aber in immer größerer Zahl.“

Diesen „Wettbewerb der Systeme“ griffen im Anschluss auch die Experten am Podium auf.

Prof. Wolfgang Mueller dazu: „Es geht hier um die innenpolitische Entwicklung. Wir sehen, dass die Ukraine – insbesondere seit der orangen Revolution 2004 – eine andere innenpolitische Entwicklung genommen hat als Russland. Während sich in Russland ein monokratisches System verfestigt hat, ein sehr wenig mobiles, schrittweise autoritäres, hybrides System verfestigt hat, hat sich die Ukraine – auch mit Rückschlägen natürlich doch seit 2004 eher in Richtung von Demokratie, Freiheit und Pluralität entwickelt. Hier sehe ich die Wurzeln des heutigen Krieges.“

Und diese Wurzeln liegen tief in einer Region Europas, mit einer Jahrhunderten alten Geschichte vom Aufstieg und Niedergang großer Reiche. Sich auf eine gemeinsame Betrachtung der Geschehnisse der vergangenen 1000 Jahre zu verständigen scheint ein unmögliches Unterfangen zu sein. Auch weil einige Beteiligte nur das sehen, was sie sehen wollen.

Prof. Stefan Karner: „Es gibt einen Krieg um die Geschichte, um die Deutungshoheit. Hier etwa die Frage um die Kiewer Rus – ist Russland älter oder ist die Ukraine älter? Dann die Frage um die Ukrainische Nationalität und Identität? Die Fragen und Aufarbeitung rund um den Holodomor*, die Sicherheitsfragen der Nato-Osterweiterung bis hin zur Euromaidan-Bewegung. Das alles sind Ursachen und Gründe, aber das alles rechtfertigt keinen Angriffskrieg.“

Der Begriff Holodomor bezeichnet den Teil einer Hungersnot in der Sowjetunion in den 1930er Jahren in der Ukraine. In dieser Sowjetrepublik fielen dem Hunger schätzungsweise drei bis sieben Millionen Menschen zum Opfer. Eine detailierte Aufarbeitung dieses historischen Ereignisses finden Sie hier.

Und doch ist er gekommen. Für die Allermeisten von uns unerwartet und mit erschreckender Brutalität. Die Expertin für Geopolitik und gebürtige Bulgarin, Velina Tchakarova, versucht dem Publikum die Sicht aus einer anderen Perspektive zu ermöglichen: „Putin sieht sich nicht von der Nato-Osterweiterung bedroht. Viel mehr sieht er den erfolgreichen Einfluss der EU in Mittel- und Osteuropa. Wenn ich mich in die Denkweise des russischen Präsidenten hineinversetze, dann schaut er sich die Landkarte an und sieht, der Eiserne Vorhang ist weg, aber es gibt einen neuen geoökonomischen und geopolitischen „Eiserne Vorhang“ der quasi seine Ostflanke tatsächlich bis zu den Grenzen Russlands gezogen hat, wo sich der geoökonomische Raum Russlands massiv einschränkt. Somit muss uns auch eines klar sein: Die Zielsetzung der Kriegsführung in der Ukraine betrifft nicht nur die Ukraine als Staat. Es geht darum, dass ein neues geopolitisches Projekt unter der Führung Russlands entsteht.“

Putin hat mit seiner Entscheidung am 24. Februar neue Fakten am europäischen Kontinent geschaffen. Wie der Westen und die Europäische Union in den kommenden Wochen und Monate darauf reagieren, wird diesen Wettbewerb der Systeme für die nächsten Jahrzehnte prägen. Die Politische Akademie wird sich auch in Zukunft intensiv mit den Auswirkungen des Ukrainekonflikts auseinandersetzen.

Den aus dem Event entstandenen Beitrag der Ö1-Sendung „Journal-Panorama“ können Sie hier nachhören.

Die gesamte Veranstaltung können Sie hier nachsehen:

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