Alpbach Salon: Von der moralischen Verpflichtung genau zu streiten

In politischen Debatten, die von Woke Politics und Cancel Culture dominiert werden, wird zunehmend mit Verboten argumentiert und weniger mit bürgerlichen Werten wie Freiheit. Der Zeitgeist scheint Moral über Sachlichkeit zu stellen, Paternalismus über bürgerliche Verantwortung. Was das für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt bedeuten kann, diskutierte die Politische Akademie im Rahmen des Forum Alpbach.

Der Einladung zum Alpbach Salon von Akademie-Präsidentin Bettina Rausch, waren nicht nur zahlreichte Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Forum Alpbach gefolgt, sondern auch die deutsche Literaturwissenschaftlerin und Politikberaterin Gertrud Höhler sowie FAZ-London-Korrespondent und Universitätslektor Philip Plickert.

 

Freies Denken als fragiles Privileg

Freies Denken als Privileg und dessen Schutz als moralische Verpflichtung – mit diesem Appell richtete sich Bettina Rausch, Präsidentin der Politischen Akademie, in ihrem Einleitungsimpuls an die Salon-Gäste. „Eine unserer größten Errungenschaften ist die Überwindung der Zensur des Denkens, wie wir sie etwa im Mittelalter erlebt haben, und damit einhergehend das Bekenntnis zur freien Meinungsäußerung. Zuvor durfte manches einfach gar nicht gedacht und gesagt werden.“ Um das wertvolle Gut der freien Meinungsäußerung zu schützen, müsse man „genau streiten“. Denn „bürgerliche Werte wie Freiheit und Verantwortung verpflichten uns moralisch dazu“, so Rausch. „Dazu müssen wir Mühe investieren, zuhören und dürfen nicht oberflächlich bleiben. Denn es geht um die Wahrung der Freiheit des Denkens.“

Rausch stellte die Frage in den Raum, ob es in Zeiten von Cancel Culture und Woke Politics auch  heute wieder Zensur gäbe: „Möglicherweise tragen Cancel Culture oder Woke Politics ähnlich fragwürdige Züge wie die Denkverbote des Mittelalters in sich. Denn es hat den Anschein als würde auch hier vorgeschrieben werden, was gedacht und gesagt werden darf und was nicht.“

Natürlich brauche auch Politik Moral, so Rausch, „denn ohne Moral fehlt der Politik die Basis.“ „Aktuell“, so stellte Rausch fest, „erleben wir aber eine zunehmende Fehldeutung und Hypermoralisierung, deren Urteil sich selbst genügt.“

Werte als Handicap?

Die Bestseller-Autorin Gertrud Höhler näherte sich dem Thema des Alpbach Salons aus der Vogelperspektive und analysierte die aktuellen Entwicklungen aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive.

Bürgerliche Werte stünden im stetigen Widerspruch und in Konkurrenz mit anderen Wertemodellen der Welt. Eine westliche Dominanz der Moralvorstellungen könne in den Wertekatalogen nur noch mit einem Fragezeichen im Kopf diskutiert werden. So sähe man sich gezwungen, die eigene Haltung, zum Beispiel in Fragen der Freiheitswahrung, zu schwächen, um neue Handelspartner ins Boot zu holen, die den eigenen Ansprüchen in Sachen Freiheit kaum genügten.

Dies sei das Dilemma des Westens: Es finde eine Machtverschiebung hin zu Staaten mit Gesellschafts- und Wertemodellen, die Hemmnisse, wie sie die europäische Wertetradition kennt, nicht verorten. Das Mindset der klassischen Industriekultur wird allmählich entmachtet und ist global nicht mehr tonbestimmend“, konstatiert Höhler, und warf die Frage auf: „Woran scheitern die Wohlstandsdemokratien? Sind Werte unser Handicap?“

Und gleichzeitig sah sie bürgerliche Werte durch die Corona-Pandemie in Deutschland gefährdet: Das Erstarken des Staates unter der Notstandsklausel am Beispiel Deutschland, beschädige die demokratische Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Deutschland hätte seine eigenen ethischen Normen über Bord geworfen. Höhler stellte zur Diskussion: „Kann der Entzug der Grundrechte von Bürger durch eine vermutete Katastrophe gerechtfertigt sein? Entwöhnen wir uns auch in Europa allmählich von unseren bürgerlichen Werten?“

Freiheit der Wissenschaft ohne Freiheit des Denkens?

Der deutsche Journalist und Universitätsdozent Philip Plickert brachte noch eine weitere Perspektive in die Diskussion mit ein: nämlich die Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit durch Cancel Culture. Der Academic Freedom Index deute darauf hin, dass Personen im universitären Kontext Bedenken haben, ihre Meinung öffentlich zu äußern, da sie fürchten mit unerwünschten Konsequenzen rechnen zu müssen. Zwei Drittel der Befragten gaben an, über brisante Themen nicht offen reden zu können.

Ein Drittel der Befragten fühle sich durch Political Correctness in ihrer Forschung eingeschränkt. In den USA sei diese Situation verschärft. Die Woke-Aktivisten hätten „den Blick, Kontrolle und die Deutungshoheit“ inne. „Es existiert nicht nur im Allgemeinen und den Medien eine Einengung des Korridors des Sagbaren, sondern auch in der Wissenschaft. Sozialwissenschaften seien davon mehr betroffen, als Naturwissenschaften“, so der promovierte Volkswirt.

Dieser Hypermoralisierung fiele aber nicht nur die Freiheit der Wissenschaft zum Opfer, sondern auch ganze Lehrpläne: Universitätscurricula in den USA erfahren unter dem Slogan „Decolonise the Curriculum“ weitreichende Veränderungen. Insbesondere „alte, weiße Denker“ würden gecancelt, also aus dem Lehrplan gestrichen und durch Denker aus anderen Regionen der Welt ersetzt. Es sei dadurch in den USA ein stickiges Klima eingezogen, das unterschiedlichste Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft und Kunst in die Nähe des Kolonialismus und Rassismus rücke.

Die Schweigespirale

Die Angst vor negativen Reaktionen führe zu einer Schweigespirale. Vertreterinnen und Vertreter der University of London wurden befragt, ob sie ihre politische Meinung offen vertreten würden. Bemerkenswert dabei: Politisch links der Mitte angesiedelte Professoren konnten dem zustimmen, zwei Drittel der politisch konservativ eingestellten Personen nicht.

Plickert gab an, dass laut Erhebungen allein im letzten Jahr 180 Personen weltweit gecancelt worden seien. Dies sei zur Masse der potentiell betroffenen Personen nicht fühlbar viel. „Ich gebe aber zu bedenken, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist, wenn wir an die Personen denken, die sich erst gar nicht mehr trauen sich zu Wort zu melden“ stellt Plickert in Relation.

Der Wert des Widerspruchs

Nun bilde sich nicht nur in den USA Widerstand gegen die Cancel Culture: So versucht die Academic Association of Freedom die Wissenschaftsfreiheit zu verteidigen. Eine ähnliche Bewegung finde sich in Deutschland mit dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit. Dieses wolle die lebende Debatte und den Widerspruch bewahren. „Allein die Tatsache, dass es solche Organisationen gibt, zeigt das Ausmaß des Drucks dem Mitglieder der Wissenschaft ausgesetzt sind“, so Plickert.

Der Weg des Dialogs als Ziel

In guter Salon-Tradition führten die Impulse von Rausch, Höhler und Plickert zu einer angeregten Diskussion. In einem waren sich aber alle einig: Dialog muss weiterhin angstfrei und ohne moralische Vorverurteilung möglich sein. Das Trennende darf uns nicht fortwährend davon abhalten, das Verbindende zu suchen, denn nur durch eine gepflegte Streitkultur kann Verständnis erarbeitet werden. Und damit schließt sich der Kreis am Ende dieses Alpbach Salons: Es geht darum, genau zu streiten. Und wer sich das zumutet, schütz damit bürgerliche Werte wie die (Meinungs-) Freiheit.

Facebook
Twitter
Telegram
WhatsApp
Email

Weitere Themen