Mai 2020, Österreichisches Jahrbuch für Politik
Unerwartet turbulent hat sich das Jahr 2019 auch im Parlament gezeigt. Nach einer ersten Phase parlamentarischer Routine führte das Ibiza-Video zu einer Premiere: Der ersten Abwahl einer Bundesregierung durch den Nationalrat. Und in der Folge zur ersten Bundeskanzlerin Österreichs. Während die Expertenregierung das Land verwaltet hat, herrschte im Parlament das freie Spiel der Kräfte, das einer kritischen Würdigung bedarf. Schließlich hat sich ein neuer Nationalrat konstituiert, der so jung und so weiblich ist wie keiner davor.
Ein Kommentar von Bettina Rausch
Mit derart turbulenten Zeiten, auch und vor allem im österreichischen Parlament, hat zu Beginn des Jahres natürlich niemand gerechnet. Das zweite Jahr der türkis-blauen Regierungskoalition hat sich angekündigt als Jahr der Sacharbeit, und so war auch für das Parlament business as usual – die sachpolitische Auseinandersetzung mit Gesetzesvorlagen der Regierung und die eine oder andere Gesetzesinitiative der Oppositionsparteien – zu erwarten. Darüber hinaus war nur noch mit intensiver Ausübung der Kontrollfunktion in den Untersuchungsausschüssen, mittels parlamentarischer Anfragen und durch den einen oder anderen Misstrauensantrag gegen einzelne Regierungsmitglieder zu rechnen.
Heute wissen wir: Es kam anders. Völlig anders. Das Parlament sah sich mit Situationen konfrontiert und hat Beschlüsse gefasst, wie es sie seit Bestehen des Parlamentarismus in Österreich, also seit hundert Jahren, noch nicht gab.
Denn dieses vielfältige Parlamentsjahr war auch ein Jubiläumsjahr – das Jahr 1919 war das allererste Jahr mit einem echten Parlament in Österreich. Nachdem am 12. November 1918 die provisorische Nationalversammlung vergleichsweise moderne Grundsätze festgelegt hat – nämlich eine allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahl nach dem Verhältniswahlrecht – hat am 16. Februar 1919 die erste Wahl nach diesen Grundsätzen stattgefunden. Am 4. März 1919 schließlich hat sich die gewählte Nationalversammlung konstituiert.[1]
Der Beginn des Jahres
Nichts hat auch nur annährend hingedeutet auf die Ereignisse, die vier Monate später die Republik erschüttern sollten, als der Nationalrat am 29. und 30. Jänner seine ersten Sitzungen des Jahres abhielt.
Bis zur Abwahl der Bundesregierung am 27. Mai fanden 19 Plenarsitzungen des Nationalrates statt. Sie waren geprägt von parlamentarischer Routine – die Tagesordnungen waren bestimmt von Vorlagen der Bundesregierung, die mal mehr, mal weniger kontroversiell diskutiert wurden. Die Regierungsmehrheit war gesichert, die Opposition hat Kritik geäußert und ihre Kontrollmöglichkeiten wahrgenommen. Im Rückblick betrachtet interessant erscheint, dass in der Sitzung am 30. Jänner ein Misstrauensantrag gegen den Bundesminister für Inneres Herbert Kickl (FPÖ) gescheitert ist.
Zu den wesentlichen Gesetzesbeschlüssen in dieser Zeit gehörten beispielweise der erste Versuch der Förderung von Biomasse im Ökostromgesetz (die im Nationalrat erforderliche Zweidrittel-Mehrheit wurde zwar erreicht, das Gesetz ist allerdings in der Folge im Bundesrat gescheitert), das Brexit-Begleitgesetz als Vorsorge für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union, Verbesserungen bei den Deutschförderklassen und der Mathematik-Matura, das erste Anti-Gold-Plating-Gesetz, mit dem überbordende bürokratische Vorschriften in einer Vielzahl von Gesetzen zurückgenommen werden, das Biomasseförderung-Grunds3atzgesetz das nach dem oben erwähnten Scheitern einer Verfassungsmehrheit auf Bundesebene nun den Bundesländern einen Rahmen für die entsprechende Förderung gibt, das neue Sozialhilfe-Grundsatzgesetz mit bundesweiten Höchstgrenzen für Sozialhilfeleistungen, das Kopftuch-Verbot für Volksschulkinder und die Einrichtung der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen für Asylwerberinnen und Asylwerber.
Ein Video und seine Folgen
Am Abend des 17. Mai 2019 veröffentlichten Süddeutsche Zeitung und Spiegel ein Video, das den damaligen FPÖ-Obmann und Vizekanzler Heinz-Christian Strache in einer Finca auf Ibiza im Gespräch mit einer vermeintlichen russischen Oligarchen-Nichte zeigt. Dieses Video und seinen Auswirkungen werden in anderen Beiträgen dieses Jahrbuchs ausführlich analysiert.
Daher hier nur in gebotener Kürze: In Folge der Video-Veröffentlichung trat Strache von allen politischen Funktionen zurück, der Bundespräsident hat weiters auf Vorschlag von Bundeskanzler Sebastian Kurz Herbert Kickl als Innenminister entlassen, was den Rücktritt aller FPÖ-Regierungsmitglieder zur Folge hatte. Mit ihren Aufgaben wurden auf Vorschlag von Kurz parteiunabhängige Expertinnen und Experten beauftragt.
Am 27. Mai 2019, dem Tag nach der Wahl des Europäischen Parlaments, fand eine denkwürdige Nationalratssitzung statt, die wohl in die Geschichte eingehen wird. Mit Mehrheitsbeschluss von SPÖ, JETZT und FPÖ versagte der Nationalrat der gesamten Bundesregierung – zu diesem Zeitpunkt gebildet von Bundeskanzler Sebastian Kurz, Bundesministerinnen und -ministern der neuen Volkspartei und unabhängigen Expertinnen und Experten – das Vertrauen. Dagegen gestimmt haben NEOS und neue Volkspartei, die Grünen war zu diesem Zeitpunkt nicht im Nationalrat vertreten. In der Folge wurde auch ein Antrag auf vorzeitige Beendigung der XXVI. Gesetzgebungsperiode eingebracht.
Von Regierungskrise, ja sogar Staatskrise, wurde in der Folge gesprochen. Die vom Bundespräsidenten so oft zitierte “Eleganz, ja Schönheit der Verfassung”[2] zeigt sich auch im parlamentarischen Procedere. Noch vor Bekanntwerden des Ibiza-Videos schreibt Anton Pelinka in seinem Beitrag für das von der Parlamentsdirektion herausgegebene Sammelwerk “Umbruch und Aufbruch” über “Die – erfreuliche – Routine des Parlaments”, die sich in der zweiten Republik entwickelt habe: “Seit 1945 ist der österreichische Parlamentarismus zur Routine geworden. Angesichts der Brüche der Vergangenheit, aber auch der Brüche parlamentarischer Entwicklungen außerhalb Österreichs ist die Routine positiv zu bewerten – jedenfalls vom Standpunkt der Demokratie.”[3]
Anders war dies in der Ersten Republik, denn “es war ein parlamentarisches Ereignis, das zur ersten Explosion führte, die eine Kette von Katastrophen einleitete”. Am 5. März 1933 traten alle drei Nationalratspräsidenten zurück – Auslöser war ein Geschäftsordnungskonflikt, der laut Pelinka “bei entsprechendem politischem Willen leicht gelöst hätte werden können.”[4]
Im Jahr 2019 wurde die erstmalige Abwahl einer Bundesregierung jedenfalls von allen Institutionen und handelnden Personen mit rechtlicher Besonnenheit und demokratischer Reife behandelt. Die politische Einordnung behandelt beispielsweise die Politikberaterin Heidi Glück in diesem Jahrbuch, sie spricht von einem “rotblauen Rache-Reflex”.
Das freie Spiel der Kräfte
Die erste Sitzung des Nationalrates nach der geschichtsträchtigen Sitzung mit der Abwahl einer Bundesregierung begann am 12. Juni mit einer weiteren Premiere: Zum ersten Mal trat eine Bundeskanzlerin vor den Nationalrat, um eine Regierungserklärung abzugeben. In der selben Sitzung wurde die vorzeitige Beendigung der XXVI. Gesetzgebungsperiode (nur die Liste JETZT hat dagegen gestimmt) beschlossen.
Unabhängig von den Turbulenzen rund um die Bundesregierung wurde am 13. Juni die Volksanwaltschaft neu besetzt. Werner Amon (Volkspartei), Bernhard Achitz (SPÖ) und Walter Rosenkranz (FPÖ) folgen den scheidenden Volksanwälten Gertrude Brinek (Volkspartei), Günther Kräuter (SPÖ) und Peter Fichtenbauer (FPÖ).
Regelrecht explodiert ist der Einsatz eines sonst weniger genutzten Instrument des Nationalrates: Der Fristsetzungsantrag. Damit stellt das Nationalratsplenum sicher, dass Beratungen zu einem Antrag auch dann in der Plenarsitzung aufgenommen werden, wenn der Ausschuss seine Beratungen nicht abgeschlossen und einen Bericht vorgelegt hat. 58 Fristsetzungsanträge wurden in dieser Sitzung eingebracht, im darauffolgenden Abstimmungsmarathon wurden 31 angenommen. Das sollte allerdings noch nicht der Rekord des Jahres sein.
In den Sitzungen am 2. und 3. Juli wurden nämlich mehr als 90 Fristsetzungsanträge eingebracht, wovon 36 angenommen wurden. Am 3. Juli wurde schließlich auch der Wahltermin für die Nationalratswahl mit dem 29. September 2019 durch den Hauptausschuss des Nationalrates endgültig festgelegt.
Der Finanzminister der unabhängigen Expertenregierung, Eduard Müller, hat vor Beginn der Juli-Sitzungen die Abgeordneten zu “Augenmaß und Verantwortungsgefühl” in budgetärer Hinsicht aufgefordert.[5] Im September hat er feststellen müssen, dass vom Parlament Kosten von über fünf Milliarden beschlossen wurden, von denen nur drei Milliarden im Haushaltsplan vorgesehen sind.[6]
In diesem Sinne hat die Volkspartei in der Sitzung am 3. Juli eine Gesetzesinitiative eingebracht, wonach ab der Ausschreibung einer Nationalratswahl der Nationalrat keine Gesetzesbeschlüsse mehr fassen solle, deren Kosten nicht in der (vom Parlament beschlossenen) mittelfristigen Haushaltsplanung berücksichtigt sind. Ausnahmen sollte es nur bei Gefahr in Verzug – wie Katastrophen, Bedrohung von außen oder Bedrohung der öffentlichen Sicherheit – geben. Alle anderen Parteien verweigerten die Zustimmung, die Gesetzesinitiative scheiterte also.
In der Phase des “freien Spiels der Kräfte” wurden Gesetze durch unterschiedlichste Mehrheits-Konstellationen beschlossen.
Einige dieser Beschlüsse gehen auf das Regierungsprogramm der abgewählten Bundesregierung zurück und werden demzufolge von Volkspartei und FPÖ, teilweise mit Zustimmung weiterer Parteien, beschlossen. Zu ihnen gehören beispielsweise die Übertragung der Gesetzgebungskompetenz für Kinder- und Jugendhilfe zur Gänze an die Bundesländer (bis dahin “gemeinsame Zuständigkeit”), wobei Qualitätsstandards in einer 15a-Vereinbarung festgelegt wurden, die Einführung des Plastiksackerl-Verbots ab 2020, Ökostromförderung für Windkraft, Kleinwasserkraft und Photovoltaik, die jährliche Valorisierung des Pflegegeldes, Entbürokratisierung durch eine Organisationsreform der Finanzverwaltung, das Gewaltschutzpaket, die Digitalsteuer für globale Internetgiganten samt Verwendung eines Teils der Einnahmen zur Förderung der digitalen Transformation österreichischer Medienunternehmen und der erste Teil der von der alten Regierung geplanten Steuerreform mit einer Entlastung für niedrige Einkommen durch geringere Sozialversicherungsbeiträge.
Weitere Beschlüsse gehen auf Initiativen anderer Parteien zurück und wurden mit den Stimmen zumindest eines der ehemaligen Regierungspartner beschlossen. Beispielhaft genannt werden können hierzu die Schließung des König-Abdullah-Zentrums, ein Ölkessel-Verbot für Neubauten, die Beschränkung von Parteispenden, das generelle Rauchverbot in Gastronomiebetrieben, das Verbot des Pflanzenschutzmittels “Glyphosat” (das von Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein nicht in Kraft gesetzt wurde, weil die europarechtlich notwendige Notifizierung nicht erfolgt ist) , die Ausrufung des Klimanotstandes oder die “Hacklerregelung” für den altersunabhängigen Pensionsantritt bei 45 Beitragsjahren.
Konstituierung nach der Neuwahl
Am 23. Oktober trat der neugewählte Nationalrat zu seiner ersten Sitzung der XXVII. Gesetzgebungsperiode zusammen. Im Nationalrat sind fünf Parteien vertreten: Die neue Volkspartei mit 71 Abgeordneten, die SPÖ (40), die FPÖ (30), die Grünen (26) und NEOS (15). Eine Abgeordnete ist fraktionslos. Ins Nationalratspräsidium wurden gewählt: Wolfgang Sobotka (Volkspartei, 143 Stimmen), Doris Bures (SPÖ, 142 Stimmen) und Norbert Hofer (FPÖ, 123 Stimmen).
Das Durchschnittsalter der Abgeordneten zum Nationalrat liegt zu Beginn der Gesetzgebungsperiode bei 47,3 Jahren und ist damit so niedrig wie nie zuvor. Der Anteil an weiblichen Abgeordneten liegt bei 39,3 Prozent (72 von 183 Abgeordneten) und ist somit der höchste der Geschichte.
Rasch ist der Nationalrat auch zu seiner ersten Sondersitzung zusammengekommen, am 26. November hat die SPÖ Vorstandsbestellungen bei der Casinos Austria AG in einer dringlichen Anfrage an Finanzminister Eduard Müller thematisiert. Als erste Gesetzesbeschlüsse des neuen Nationalrats sind beispielhaft zu nennen eine Lösung für Asylwerbende in Lehrausbildung und die Sicherstellung der Förderung für den Verein für Konsumenteninformation.
Sonstige Schwerpunkte des Parlaments
Neben der parlamentarischen Arbeit im engeren Sinn – Beschlussfassungen über Gesetze und Kontrollfunktion gegenüber der Bundesregierung – setzt das Nationalratspräsidium thematische Schwerpunkte. Im Jahr 2019 erscheinen vor allem Initiativen für den Westbalkan, das Jubiläum “100 Jahre Frauenwahlrecht” und wichtige Beiträge zum Kampf gegen Antisemitismus berichtenswert.
Bereits seit Beginn seiner Parlamentspräsidentschaft legt Wolfgang Sobotka einen besonderen Schwerpunkt auf den Westbalkan. Er hat bereits alle Parlamente der sechs Westbalkan-Staaten besucht und Veranstaltungen in Österreich abgehalten.
Im März 2019 hat Sobotka ein Stipendienprogramm für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Parlamente der Westbalkan-Staaten gestartet. Sie können sechs Wochen lang die Arbeit des österreichischen Parlaments vor Ort kennenlernen. Partner des Programms sind der European Fund for the Balkans und die ERSTE Stiftung. Sobotka sieht das Programm als Beitrag zur Stärkung der Demokratie in den teilnehmenden Ländern.
Reges Interesse zeigen die Westbalkan-Staaten auch an den Angeboten der Demokratiewerkstatt des österreichischen Parlaments zur Vermittlung von politischer Bildung für Kinder und Jugendliche. Mit den Parlamentsverwaltungen im Kosovo und in Montenegro besteht bereits eine diesbezügliche Zusammenarbeit, auch die Parlamente in Albanien und Nordmazedonien haben inzwischen Interesse bekundet.
Ein weiterer Schwerpunkt war das 100-jährige Jubiläum der Einführung des Frauenwahlrechts. Am 4. März 1919 sind die ersten weiblichen Abgeordneten ins Parlament eingezogen. Auf den Tag genau 100 Jahre später wurde dies mit der Veranstaltung “100 Jahre erste Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung – 100 Jahre Frauenwahlrecht” im Großen Redoutensaal der Hofburg gewürdigt.
In einer weiteren Veranstaltung wurden die Parlamentsreden der ersten acht weiblichen Abgeordneten – Hildegard Burjan, Anna Boschek, Emmy Freundlich, Adelheid Popp, Gabriele Proft, Therese Schlesinger, Amalie Seidel und Maria Tusch – von Schauspielerinnen gelesen. Abgerundet wurde der Schwerpunkt mit der Ausstellung “100 Jahre Frauenwahlrecht” am Heldenplatz, in der ebenfalls die politischen Pionierinnen vorgestellt wurden.
Traditionell ist das Gedenken an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte und der Kampf gegen Antisemitismus ein Schwerpunkt des Parlaments. Dazu wurden auch im Jahr 2019 wichtige Akzente gesetzt. Am 3. Mai beging das Parlament den jährlichen Gedenktag zur Erinnerung an die Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen. In seiner Festrede warnte der Orientalist Bassam Tibi vor den Gefahren eines sich entwickelnden “neuen Antisemitismus”.
Außerdem hat Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka eine Studie über Antisemitismus in Österreich in Auftrag gegeben, die von einer Arbeitsgemeinschaft unter Führung des Instituts für empirische Sozialforschung erstellt wurde[7]
Die Ergebnisse der Studie wurden auch im podcast “grundsatz” der Politischen Akademie behandelt, wo Studienkoordinator Thomas Stern mit dem Volkspartei-Nationalratsabgeordneten und früheren Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Martin Engelberg darüber gesprochen hat. Auch wenn sich zeige, dass das Maß des Antisemitismus sinke, wenn der Bildungsgrad steigt, sei das Problem in Österreich noch nicht überwunden, stellt Stern fest und zeigt sich vor allem davon überrascht, dass der Antisemitismus bei den Befragten mit türkischem oder arabischem Hintergrund höher war als vermutet.[8]
Resümee und persönliche Einordnung
Ein Jahr der Rekorde und der ersten Male war das Jahr 2019 im österreichischen Parlament. Ereignisse, die Fragen zur Funktionsweise unseres Parlaments aufwerfen und Ergebnisse, die zumindest aus demokratiepolitischer Sicht erfreulich sind. Mit der Bundesverfassung – von Bundespräsident Alexander van der Bellen in seiner Neujahrsansprache als “heller Fixstern” bezeichnet – als Grundlage dafür.
Als leidenschaftliche Parlamentarierin, die ich zehn Jahre lang – fünf im Bundesrat, fünf im niederösterreichischen Landtag – sein durfte, verfolge ich die parlamentarischen Prozesse mit höchstem Interesse. Als Präsidenten einer Parteiakademie, der Politischen Akademie der Volkspartei, richtet sich mein Blick auch auf die weitere Entwicklung von Politik und Demokratie.
Das turbulente Parlamentsjahr 2019 bietet viele Anlässe, dem Parlamentarismus Aufmerksamkeit zu widmen. Wenn Anton Pelinka von der “Routine” das Parlamentarismus spricht[9], die sich ab dem Jahr 1945 entwickelt habe, dann ist ihm voll und ganz zuzustimmen. Sein Text ist vor den Folgen des “Ibiza-Videos” erschienen und wird durch die Ereignisse danach voll bestätigt.
Trotz aller Turbulenzen und der in Österreich erstmaligen Abwahl einer Bundesregierung, bleiben die demokratischen Spielregeln in Kraft. Die von Bundespräsident Alexander van der Bellen viel zitierte “Eleganz, ja Schönheit der Verfassung” kann sich voll entfalten. Anders als im Jahr 1933, als zwar die selbe Verfassung in Kraft war, aber ein Geschäftsordnungskonflikt zum Rücktritt aller drei Nationalratspräsidenten führte. Im Jahr 2019 zeigt sich: Das Parlament hat an Reife gewonnen, Demokratie und Parlamentarismus funktionieren auch in schwierigen Situationen.
Aus demokratiepolitischer Sicht kann man also von einem erfreulichen, erfolgreichen Jahr sprechen. Aus sachpolitischer Sicht zeigt sich ein anderes, ein differenzierteres Bild.
Das “freie Spiel der Kräfte”, also wechselnde Mehrheiten im Parlament, wurde ab der Abwahl der Bundesregierung, und damit vier Monate lang, genutzt. Erinnerungen und warnende Hinweise auf die Nationalratssitzung im September 2008 wurden ebenso laut wie auch in den Wind geschlagen. Auch elf Jahre später hat das “freie Spiel der Kräfte” Beschlüsse gebracht, die mit Budget und Haushaltsplanung nicht vereinbar sind. Der Finanzminister der unabhängigen Expertenregierung, Eduard Müller, hat mehrfach darauf hingewiesen. Und wurde nicht gehört.
Dass die sachpolitische Sinnhaftigkeit von Maßnahmen von den Abgeordneten unterschiedlich bewertet wird, liegt in der Natur der Sache. Dass das Parlament allerdings Beschlüsse fasst, deren finanzielle Auswirkungen mit dem vom selben Parlament beschlossen Bundesfinanzrahmengesetz, der mittelfristigen Haushaltsplanung, nicht vereinbar sind, muss man zumindest als inkonsequent bezeichnen.
Aber nicht nur finanzielle Fragwürdigkeiten und Inkonsequenz lassen Zweifel an der Sinnhaftigkeit des freien Spiels der Kräfte in Wahlkampfzeiten aufkommen. Auch handwerklich wird im Wahlkampftrubel gepfuscht. Beispielhaft dafür steht das beschlossene Verbot des Pflanzenschutzmittels Glyphosat. Man mag in der Sache dazu stehen, wie man will. Aber die in dieser Zeit noch amtierende Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein – davor Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes – hat das Gesetz nicht in Kraft gesetzt, weil der Gesetzgebungsprozess nicht korrekt abgelaufen ist. Einem seriösen, routinierten Parlament sollte das nicht passieren.
Schon im Zuge der erwähnten Nationalratssitzung vom September 2008, und auch danach immer wieder, wurden Vorschläge laut, in Wahlkampfzeiten keine Beschlüsse mit finanziellen Auswirkungen zu fassen. Aus demokratiepolitischer Sicht wird das damit argumentiert, dass ja die Wählerinnen und Wähler kurz davor stehen, die Mehrheitsverhältnisse neu zu bestimmen – und Beschlüsse mit langfristigen Auswirkungen sollten eben dem aktuellen, nicht dem möglicherweise veralteten, Wählerwunsch entsprechen.
Die Volkspartei hat im Juli 2019 die Initiative ergriffen, eine derartige gesetzlich Regelung zu treffen. Die anderen Parlamentsparteien sind dem Vorschlag allerdings nicht gefolgt – weder durch Zustimmung zu diesem Gesetz noch durch ihr tatsächliches Stimmverhalten in den folgenden Sitzungen.
Mit gutem Recht kann man also das freie Spiel der Kräfte in Wahlkampfzeiten kritisch beurteilen. Und vielleicht in ruhigeren Zeiten einen Konsens für eine bessere Regelung finden. Das Parlament als Wahlkampfbühne zu missbrauchen, schadet nämlich dem Parlamentarismus an sich.
Eine weitere Herausforderung, vor der ich den Parlamentarismus stehen sehe, ist die (digitalisierungsgetriebene) Beschleunigung in vielen Lebensbereichen, auch im demokratischen Diskurs. War früher noch die Rede von der “Schlagzeile von Morgen” geht es heute oft schon um den Online-Artikel der nächsten Stunde. Es gibt einen – in dieser Grundstimmung verständlichen – Wunsch der Bürgerinnen und Bürger an die politischen Akteurinnen und Akteure, rasch zu reagieren, schnelle Entscheidungen zu treffen. Lange Diskussionen sind nicht in. Erfolgreiche Regierungen handeln so.
Und Parlamente stehen vor einem Dilemma. Eine Abstimmungsmaschinerie der Regierung wollen und sollen sie nicht sein. Anderseits sind Abläufe, Prozesse, Geschäftsordnungen oft zu schwerfällig, um in der heutigen medialen Logik und Erwartungshaltung der Bevölkerung verstanden oder gar gewürdigt zu werden. Man denke nur beispielhaft an Begrifflichkeiten wie Erste Lesung, Zweite Lesung, Dritte Lesung. Was früher sinnvoll war, darf man heute – wo jede und jeder Interessierte genauso wie die Abgeordneten den Gesetzesentwurf selbst im Internet nachlesen kann – durchaus in Frage stellen.
Die Veränderung in allen gesellschaftlichen Bereichen sollte auch am Parlament nicht vorbeigehen. Damit der Parlamentarismus lebendig bleibt. Daran zu arbeiten, erweist der Demokratie einen wichtigen Dienst.
Autoreninfo
Bettina Rausch ist Präsidentin der Politischen Akademie der Volkspartei. Sie war fünf Jahre lang Bundesrätin und weitere fünf Jahre lang Abgeordnete zum niederösterreichischen Landtag. Sie hat unter anderem mit Karl Nehammer den Sammelband “Offen für Neues. Einschätzungen und Analysen zum ersten Jahr der neuen Volkspartei” und mit Simon Varga den Sammelband “Christlich-Soziale Signaturen. Grundlagen einer politischen Debatte” herausgegeben. Seit 2018 ist Rausch Mit-Herausgeberin des Jahrbuchs für Politik.
[1] vgl. zur Gründung der Ersten Republik u.a.: Karl Stadler, Die Gründung der Republik, in: Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hrsg.), Österreich 1918-1938. Geschichte der Ersten Republik, Graz/Wien/Köln 1983; Karner, Stefan (Hrsg.), Die umkämpfte Republik. Österreich von 1918-1938, Innsbruck/Wien/Bozen 2017
[2] Statement Bundespräsident Alexander van der Bellen am 21. Mai 2019
[3] Pelinka, Anton, Die – erfreuliche – Routine des Parlaments in: Parlamentsdirektion (Hrsg.), Umbruch und Aufbruch. Parlamentarische Demokratie in Österreich, Wien 2019, S. 184
[4] Pelinka, Anton: S. 186
[5] Schriftliche Stellungnahme von Finanzminister Eduard Müller, 3. Juli 2019, APA und diverse Medien
[6] Presseaussendung Finanzminister Eduard Müller vom 18. September 2019
[7] https://www.parlament.gv.at/SERV/STUD/ANTISEM/
[8] https://politische-akademie.at/de/onlineangebote/podcast-grundsatz
[9] Pelinka, Anton, Die – erfreuliche – Routine des Parlaments in: Parlamentsdirektion (Hrsg.), Umbruch und Aufbruch. Parlamentarische Demokratie in Österreich, Wien 2019
Alle Infos zum Jahrbuch für Politik auf www.politische-akademie.at/jahrbuch