Kommentar: Solidarität. Der Begriff der Krise.

April 2020, Politische Akademie

“In der Krise zeigt sich der Charakter” hat der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt so treffend formuliert. In der aktuellen Corona-Krise zeigt sich auch der Charakter einer Gesellschaft.

Ein Kommentar von Bettina Rausch

Das Wort, das die Verfasstheit unserer Gesellschaft in diesen Tagen wohl am treffendsten beschreibt, ist Solidarität. Es überrascht vielleicht, wie dieses Wort, diese Idee, eine Renaissance erlebt. Und zwar nicht als Forderung – dazu später – sondern als Beschreibung dessen, was in Österreich und vielerorts auf der Welt gerade passiert: Eine Gesellschaft, die solidarischer ist, als von Gesellschaftskritikern vermutet; Menschen, die solidarischer handeln, als es Kulturpessimisten für möglich gehalten haben.

Der Kabarettist Andreas Vitásek spricht seine Verwunderung deutlich aus: “Was mich überrascht, ist unsere grundsätzliche Fähigkeit zur Solidarität. Da habe ich uns Österreicher unterschätzt.” Auch die soziale Medien stets wachsam und kritisch beobachtende Netz-Expertin Ingrid Brodnig stellt fest: “Im Netz sind nicht nur Gerüchte und Desinformation zu Covid-19 sichtbar, sondern auch solidarische Aktionen.” Eben noch waren sie verpönt, die sozialen Medien. Unseriös seien sie, Quelle von Missgunst und Hass und im besten Fall sinnentleerte Blödelei á la Cat-Content und kuriosen Contests. Und plötzlich sind sie vielgenutzte Nachrichtenquelle, ein Ort für zwischenmenschlichen Kontakt in der sozialen Isolation und die Basis für viele solidarische, bürgergesellschaftliche Initiativen.

Unser Leben hat sich schlagartig geändert, seit uns die Corona-Krise in die (beinahe) Quarantäne geschickt hat. Das stellt auch die Grundwerte unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens auf den Prüfstand. Die Fundamente des Gesellschaftsvertrages im Rousseauschen Sinn – das freiwillige Akzeptieren des auf Vernunft gegründeten Gemeinwillens – müssen sich beweisen, im Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Freiheit und dem Recht auf Sicherheit.

Wie steht es also um den “European Way of Life”, wie es die neue Europäische Kommission nennt, in dieser Krise. Seinen Ursprung hat dieser in der christlich-abendländischen Tradition unseres Kontinents und in der Philosophie der Aufklärung, einer europäischen Philosophie, die ihren Siegeszug in große Teile der Welt angetreten hat – bis hin zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Das christlich-humanistische Menschenbild, als Verbindung dieser beiden Europa prägenden Strömungen, stellt den Menschen in seiner Einzigartigkeit und Individualität, ausgestattet mit der ihr und ihm eigenen unantastbaren Würde in den Mittelpunkt. Daraus folgt ein bestimmtes Verständnis von Solidarität.

Denn grundsätzlich betrachtet lassen sich zwei Ausprägungen erkennen: Solidarität als bequeme Haltung oder als konkrete Handlung.

Solidarität als bequeme Haltung erschöpft sich darin, sich “solidarisch zu erklären”. Da dem aber keine Handlung folgt, bleibt jede tatsächliche Wirkung aus. Ebenso bequem wie im politischen Diskurs beliebt ist es, Solidarität zu fordern, ja vom Staat zu fordern, sie durch Gesetze und Zwangsmaßnahmen herzustellen. Allerdings: Solidarität kann man nicht verordnen.

Was wir jetzt, in der Krise, erleben, das ist Solidarität als konkrete Handlung aus innerem Antrieb. “Was brauchst du? Und: Was bin ich bereit herzugeben, damit wir gemeinsam ein besseres Leben haben?” sind für den deutschen Soziologen Heinz Bude die entscheidenden Fragen. Erst vor einem Jahr – also weit vorm ersten Auftreten des Corona-Virus – hat er das anregende Buch “Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee” geschrieben. Solidarisches Handeln entspringe nicht “aus moralischem Zwang oder schlechtem Gewissen, sondern aus Einsicht in ihre Vorteile: Die Erfahrung von Solidarität bereichert den Einzelnen”.

Nachbarschaft-Challenges und Nachhilfe-Initiativen. Musikkonzerte auf Balkonen oder im Internet. Freiwillige im Sonder-Zivildienst oder als Erntehelfer. Leute, die Masken nähen und in ihrem Umfeld verteilen. Die Geschichte einer Frau, die im Supermarkt mehrere Tafeln Schokolade gekauft – um sie nach Bezahlung an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verteilen. Solidarität äußert sich in diesen Wochen in ganz konkreten Handlungen mit ganz konkreten Wirkungen. Für die Einzelnen und für die Gesellschaft.

Viele Maßnahmen der Bundesregierung in der Bekämpfung der Krise, wurden schon befolgt, bevor sie in Gesetze gegossen waren. Auch das ist Ausdruck einer eigenverantwortlichen Solidarität. Das schöne Paradoxon ist, dass die einfache Maxime “Daheim bleiben. Abstand halten.” den Sinn fürs Gemeinsame weckt, Individuen zum Team Österreich werden hat lassen und gleichzeitig in eigener Verantwortung umgesetzt wird – nach eigenen Möglichkeiten und Bedürfnissen, in Rücksichtnahme auf andere. “Entgegen geläufigen Annahmen besteht, solange die Grundversorgung gesichert ist, relativ großes Solidaritätsgefühl und die Bereitschaft, eigene Interessen zurückzustellen”, weiß auch der Krisen-Thriller-Autor Marc Elsberg, bekannt für seine tiefgehenden Recherchen. Die sozialen Medien – um sie und damit auch Ingrid Brodnig nochmal zu zitieren – befördern das: “Hilfsbereitschaft ist ansteckend – offline wie online”.

In der Krise offenbart sich, dass die Bereitschaft zur Solidarität tief in uns, in unserem Mensch-Sein steckt. Und die tatsächliche Ausübung selbiger auch aus unserem Inneren kommt. Das ist sowohl das christlich-soziale wie auch das liberale Verständnis von Solidarität, von einer lebendigen Bürgergesellschaft, von einer Gesellschaft freier und verantwortlicher Menschen.

Viele fragen sich jetzt, wie es nach der Krise weitergeht mit der Solidarität. Dass ein “relevanter Teil der Gesellschaft” eine ausgeprägte “Wir-Kultur”, eine “solidarische Kultur” lebe, vermag Zukunftsforscher Harry Gatterer in Studien seines Instituts zu erkennen. Es handle sich dabei um “Strukturen des Helfens und Aufeinanderschauens”. Eine Hoffnung, die auch der Historiker Yuval Noah Harari in seinem vielbeachteten Kommentar in der Financial Times hegt: “Eine eigenverantwortliche, aufgeklärte Bevölkerung bringt gewöhnlich viel mehr zustande als eine unwissende und gegängelte.”

Von Politikerinnen und Politikern richtig verstandene Solidarität – und das sollte eine der ersten Lernerfahrungen aus dieser Krise sein – kann uns helfen, das ewige Dilemma zwischen Freiheit und Sicherheit ein Stück weit zu überwinden. Keine Regierung kann Solidarität verordnen. Aber wo der Mensch solidarisch handelt, handelt er in Freiheit und befördert Sicherheit. Wir sollten die Chance der Krise nutzen, genau das den Menschen zu ermöglichen. Und – noch wichtiger – es ihnen zutrauen.9

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