Anlässlich des ersten Jahrestages des russischen Angriffs auf die Ukraine lud die Politische Akademie gemeinsam mit dem Wilfried Martens Centre for European Studies und der Diplomatischen Akademie am 24. Februar zu einem Blick auf die aktuelle Situation, mögliche Szenarien des weiteren Verlaufs und der neuen geopolitischen Lage ein. Dazu diskutierten die Präsidentin der Politischen Akademie Bettina Rausch, der Direktor des Martens Centre Tomi Huhtanen, der Direktor der Diplomatischen Akademie Emil Brix, Russlandexperte Stefan Karner, Geopolitik-Analystin Velina Tchakarova und der ehemalige österreichische Botschafter in den USA Martin Weiss.
Ein Kampf um das Lebensmodell
An die Entwicklung der Ukraine in den letzten Jahrzehnten und Putins Motive für diesen grausamen Krieg erinnerte Rausch in ihrer Einleitung: „Nach der Überwindung des sozialistischen Sowjetregimes haben die Menschen in der Ukraine erlebt, dass Gesellschaft und Staat auch anders funktionieren können, und sie haben sich dann mehrheitlich Europa und westlichen Werten zugewandt. Sie haben Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft als erstrebenswerte Ziele für sich definiert. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sehen in diesem westlichen Lebensmodell eine große Chance. Putin sieht darin eine große Gefahr, nicht nur auf seinem Territorium, sondern auch in seiner Nachbarschaft.“ Sie verwies zudem auf die Verantwortung, die wir als Europäerinnen und Europäer gegenüber der Ukraine haben, gegen diesen Krieg klar Position zu beziehen und das europäische Lebensmodell auch selbstbewusst zu verteidigen.
Bei der Unterstützung der Ukraine bewertete Brix die Reaktionen Europas und der USA als gelungen an: „Der Westen hat rasch und gemeinschaftliche auf Seite der Ukraine gehandelt.“ Auch geopolitisch habe man Wichtiges gelernt. Man müsse in solchen Situationen rasch tätig werden und Herausforderungen annehmen. Dieses Vorgehen führe zum Erfolg, erklärte er: „Putin und der Kreml sind in allen Bereichen ihrer Kriegsziele gescheitert.“ Zugleich sei auf westlicher Seite viel erreicht worden: „Die Ukraine hat ihre Identität gefestigt, der Westen ist so viel Westen wie noch nie und die transatlantische Beziehung wurde gefestigt.“
Auch Huhtanen befand den Westen in diesem Kampf als geeint. Die Botschaften seien klar und die aktuelle sicherheitspolitische Debatte fast optimistisch. Zugleich sei die Situation an der Front in der Ukraine eine sehr schwierige. „Nach all der Unterstützung, die wir der Ukraine gegeben haben, entsteht über die Medien der Eindruck, als hätte die Ukraine die Oberhand in diesem Konflikt und es wäre nur eine Frage der Zeit, aber in der Realität hat sie zu wenig Munition, Material und Technologie“, wies er auf die prekäre Lage der Ukraine hin.
Die Neuauflage des Kalten Kriegs
Als ehemaliger österreichischer Botschafter in Washington erinnerte Weiss auch an die wesentliche Rolle der USA bei der Unterstützung der Ukraine: „Ohne die USA geht nichts. Hätte sich die Ukraine auf Paris und Berlin verlassen, wären sie verlassen gewesen!“ Die USA unter Präsident Joe Biden hätten in dieser Ausnahmesituation sehr verantwortungsvoll reagiert. Man gehe Schritt für Schritt vor, was für die Ukraine wohl sehr unbefriedigend, aber um die Partner mitzunehmen, sehr wichtig sei.
Tchakarova forderte ein klares Bekenntnis zum Sieg der Ukraine: „Wir müssen alles daransetzen, die Ukraine nicht nur so zu unterstützen, dass sie den nächsten Angriff abwehren kann, sondern wir brauchen einen strategischen Konsens im Westen zu einer Unterstützung, die die Ukraine zum Sieg führt.“
In der neuen geopolitischen Lage sah Tchakarova eine Art kalten Krieg 2.0: „Wir steuern auf eine bifokale Welt mit den zwei Seiten USA und China zu.“ Auch Weiss bestätigte diese neue Weltordnung: „Russland ist ein kleinerer Player für die USA. China ist das eigentliche Thema, deshalb halten die Chinesen sich beim Krieg in der Ukraine auch eher die Optionen offen. Die haben kein Interesse daran, dass das morgen endet.“ So könnten die USA ihren Fokus nicht vollkommen auf China richten, sondern müssten sich weiterhin mit Russland beschäftigen.
Brücken für die Zeit danach
Historiker Karner warf einen Blick auf die jüngste Geschichte Russlands und Osteuropas: „Wir haben eine Verdichtung der Geschichte in diesem osteuropäischen Bereich gehabt: Ende des Kalten Kriegs, Zerfall des Ostblocks und der Sowjetunion, Aufbau von 15 neuen Staaten, darunter Russland und die Ukraine.“ Bei diesem Aufbau hätten sich die zuvor isolierten Staaten in Europa und die Welt integriert und zwar nicht nur jene, die direkt an Westeuropa angrenzen, sondern auch Russland selbst. „Da sind unglaublich viele Brücken gebaut worden: In der Wirtschaft, in der Politik, in der Kultur und auch in der Wissenschaft. Aktuell kann man diese Brücken nicht befahren, aber sie sind nicht zerstört und ich bin optimistisch, weil wir auf diese Brücken wieder aufbauen können in der Zukunft“, plädierte Karner dafür die Kontakte zu Russland nicht vollkommen aufzugeben. Russland sei aus Europa und der Weltpolitik nun einmal nicht wegzudenken.
Weiss war weniger optimistisch und erinnerte an die vorhergegangenen Kriege Russlands mit den Sowjetnachfolgestaaten: „Da gibt es eine lange Tradition nach dem Grundsatz: Und bist du nicht willig, dann gebrauch ich Gewalt.“ Es werde dementsprechend ganz schwierig, diese Brücken wieder zu beschreiten.
Drei Modelle für den Frieden
Vieles sei ungewiss erklärt Brix: Etwa wie weitere Erfolge auf dem Schlachtfeld aussehen könnten, wie realistisch die russische Atomwaffendrohung sei, wie lange die Solidarität im Westen aufrechterhalten werden könne oder wie stabil die innenpolitische Lage in Russland tatsächlich sei. In jedem Fall müsse sich die Diplomatie für das Ende des Kriegs vorbereiten, war der Direktor der Diplomatischen Akademie überzeugt und skizzierte drei Modelle für den Frieden aus der Geschichte. Zum einen gebe es das Modell wie nach 1945, also die bedingungslose Kapitulation des Nazi-Regimes am Ende des zweiten Weltkriegs, zum anderen das Modell der Friedensverträge nach dem ersten Weltkrieg, die die Verlierer so demütigten, dass es nur 20 Jahre später erneut zum Krieg kam, und zuletzt das Modell des Wiener Kongresses, auf dem nach den Koalitionskriegen Napoleon Bonapartes die neue Friedensordnung mit den Verlierern gemeinsam verhandelt wurde. Brix sah im letzten Modell die beste Lösung für den Tag danach, erinnerte aber auch daran, dass der Wiener Kongress nur aufgrund des Regimewechsels in Frankreich und der Verbannung Napoleons möglich gewesen war.
Aktuell sei eine Lösung aber nicht in Sicht, denn von russischer Seite sei dieser Krieg zum Kulturkrieg erklärt worden, und das „Beste“ was so am Ende herauskommen könne, sei eine Art Kalter Krieg.